Lesetipps im März 2016

Ein Ozean der Liebe
Wilfrid Lupano, Grégory Panaccione

Esteban 2: Das Überleben/Gefangen am Ende der Welt/Blut und Eis
Matthieu Bonhomme

Ein Sohn der Sonne
Fabien Nury, Eric Henninot
Über die Weltmeere
Es ist ein ganz normaler (sehr früher) Morgen für eine altes Ehepaar irgendwo an der bretonischen Küste. Der kleine bebrillte Mann steht auf, während seine rundliche Frau bereits ein deftiges Frühstück zubereitet und ihm Verpflegung für seinen Arbeitstag einpackt (wie immer auch eine Dose Sardinen, die er doch überhaupt nicht ausstehen kann). Dann geht es für den Mann noch weit vor Sonnenaufgang los und er fährt, zusammen mit seinem Matrosen, in einem kleinen Fischkutter hinaus aufs Meer. Doch diesmal verläuft der Tag nicht wie üblich, denn statt eigener Fänge wird das Schiff selbst zum Fang. Von einem gigantischen industriellen Hochseefischerboot unbemerkt fast versenkt, landet der winzige Kutter in einem der riesigen Schleppnetze des monströsen Koloss. Der kleine Kapitän ist nicht bereit, seinen Kutter zu verlassen und überlässt seinem Matrosen das Rettungsschlauchboot. Währenddessen wartet die Frau erfolglos auf die Rückkehr ihres Mannes von der See und ist, nachdem die Tage vergehen, auch zu unkonventionelleren Methoden bereit, um ihren Liebsten wieder zu finden. Eine Wahrsagerin sieht mit ihrer Methode, aus Crêpes zu lesen, eindeutig, dass der Mann nun in Kuba sein muss. Und mit dieser Reise nach Kuba beginnt auch für die Frau eine ganz eigene Odyssee ...
Szenarist Wilfrid Lupano und Zeichner Grégory Panacchione haben mit ihrem Buch Ein Ozean der Liebe ein wunderbares, skurriles und humorvolles Abenteuer geschaffen, das auf seinen ca. 220 Seiten nur in Bildern erzählt komplett ohne ein Wort auskommt und von unglaublichen Einfällen und überraschenden Wendungen nur so strotzt. Was dort alles passiert, ist schier unglaublich – unter anderem sind eine penetrante Möwe, Stickkünste, Piraten und Fidel Castro mit von der Partie in diesem vielleicht lustigstem Drama, das je zu Papier gebracht wurde.

Einige Jahre Wartezeit waren angesagt, bevor nun endlich das Abenteuer des indianischen Waisenjungen Esteban, der an Bord eines Walfängers angeheuert hat, weitergeht. Dafür schließt der Verlag die zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielende Geschichte nun auch gleich mit einem umfangreichen Dreier-Band ab. Nachdem ihr Boot im antarktischen Polarkreis festsitzt, versucht sich die Mannschaft der Leviathan mit den Rettungsbooten aus dem Eis zu befreien und mit knappen Vorräten das Festland rudernd zu erreichen. Doch ausgerechnet das Boot, in dem auch Esteban und der Kapitän der Leviathan sind, wird durch einen sich schnell bewegenden Eisberg von den anderen getrennt. Nun sind sie alleine der Unbill des Meeres ausgeliefert ... Nachdem diese Schrecken endlich überstanden sind und die Überlebenden der Crew ihr Wiedersehen feiern, beginnt ein neues Drama, denn die Besatzung der Leviathan wird zu Unrecht angeklagt und in ein brutal geführtes Gefangenenlager gesteckt. Nur Esteban konnte entkommen und startet eine verwegene, aber nicht unbedingt ganz durchdachte Befreiungsaktion ...
Matthieu Bonhomme hat mit den Geschichten um den aus Feuerland, der südlichsten Spitze Amerikas stammenden jungen Indianer, eine spannende Abenteuerserie geschaffen, in der er sowohl seine Figuren wie auch die raue Natur in stimmungsvollen Bildern lebendig werden lässt.

Etwa zur gleichen Zeit wie Esteban spielt auch Ein Sohn der Sonne, eine Geschichte um den Abenteurer David Grief, der in den Gewässern des Südpazifiks zum reichen Händler geworden ist. Frei nach Jack Londons Roman aus dem Jahr 1912 erzählen Fabien Nury (Text) und Eric Henninot (Zeichnung) eine Geschichte, die für den Glückspilz Grief allerdings äußerst unglücklich beginnt. Denn der Versuch, bei einem anderen Händler die Schulden von 1200 Pfund einzutreiben, führen nicht zu Geld, sondern zu einer Kugel in seinem Körper. Und dann ist da auch noch der Verkauf einer wertvollen Perlensammlung, zu der ausgerechnet Grief nicht eingeladen wurde ... Die Adaption dieses klassischen Abenteuers, in dem es für David Grief am Ende nicht ums Geld, sondern um eine viel persönlichere Angelegenheit geht, ist spannend umgesetzt und mit detailliertem Strich zu Papier gebracht.



Fugazi Music Club
Marcin Podolec
Musikalische Zeitreise
Mit seiner Erzählung über den Fugazi Music Club wirft der polnische Zeichner Marcin Podolec einen Blick auf die bewegte Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – einer Zeit, die er, 1991 geboren, bewusst gar nicht erlebte. Die Idee zu dem Buch entstand nach Gesprächen mit Waldek Czapski, der Podolec die Geschichte des legendären Clubs, den Czapski mitgründete, erzählte. Und es ist eine wilde Geschichte, von ein paar Jungs, die vom Krapfen- und Cola-Verkauf in einem kleinen Clubraum im Kulturzentrum ohne großen Plan plötzlich zu den Veranstaltern eines Konzertmarathons und den Betreibern des angesagtesten Clubs in ganz Polen werden – ein Club, in dem sich nicht nur polnische Heavy Metal-, Punk- und andere Rockbands die Klinke in die Hand reichen. Fast ein Jahr war der Club ab Januar 1992 Tag und Nacht geöffnet und wurde nicht nur für seine Betreiber zu einer zweiten Heimat. Doch mit der Zeit nahmen auch die Probleme zu und schließlich sollten vor allem die Schutzgeldforderungen der Mafia zum Ende des Clubs führen.
Marcin Podolec lässt ein packendes Stück Zeitgeschichte aus einer Phase des Übergangs, die viele Freiheiten eröffnete, die heute nicht mehr möglich wären, auf gut 180 Seiten wieder aufleben. Die Geschichte des Clubs und seiner Betreiber ist mitreißend erzählt und mit leicht karikierendem Stil gelungen zu Papier gebracht. Man merkt, dass der junge Künstler kein Neuling ist: Bereits fünf Comics hat Podolec verfasst, einer davon wurde in Polen 2011 zum Comic des Jahres gewählt.



Wet Moon
Atsushi Kaneko
Fernöstlicher Noir-Thriller
In den 1960er-Jahren läuft der Wettlauf um den Mond zwischen den beiden Supermächten. Der japanische Polizeiinspektor Sata ist allerdings davon überzeugt, dass niemals ein Mensch den Erdtrabanten betreten wird. Außerdem hat er ganz irdische Probleme: Eine zerstückelte Leiche und eine Tatverdächtige, die ihm bereits zweimal entkommen konnte. Sata verbeißt sich immer tiefer in diese Ermittlung – und scheint dabei oft nicht mehr zu wissen, was er bereits getan hat. Ist er überhaupt noch fähig, zu ermitteln oder vernebelt der nach einem Unfall verbliebene und immer tiefer ins Gehirn wandernde Splitter im Kopf seine Wahrnehmung der Realität? Dass ausgerechnet Sata (noch) unwissend im Besitz brisanter Informationen ist, die die allgegenwärtige Korruption in der Polizei aufdecken können, vereinfacht seine Lage keinesfalls ...
Atsushi Kanekos Wet Moon ist ein düsterer Thriller, eine verschachtelte Erzählung, deren Teile wieder zusammengesetzt werden müssen. Die Geschichte erinnert an die albtraumhaften Comics von Charles Burns und an die surrealen Welten David Lynchs, den Kaneko auch als Inspirationsquelle nennt. Und doch ist es eine ganz eigene Welt in deren Sog Kaneko seine Leser/innen ziehen kann.